SN35 bdo-Stellungnahme Anschnallpflicht im ÖPNV

Zur Forderung einer Anschnallpflicht im ÖPNV und insbesondere im Schülerverkehr (Abschaffung der Stehplätze)

Berlin, 06.10.2015

Der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer e.V. (bdo) ist der Spitzenverband der privaten Omnibusbranche in der Bundesrepublik Deutschland. Er vertritt auf Bundesebene und im internationalen Bereich die gewerbepolitischen und fachlichen Interessen von rund 3.000 Busunternehmern, die sich im Öffentlichen Personennah-verkehr, in der Bustouristik und im Busfernlinienverkehr engagieren und unter dem Dach des bdo zusammengeschlossen haben.

Aus der Bevölkerung werden immer wieder Forderungen nach einer Anschnallpflicht im ÖPNV bzw. einer Sitzplatzgarantie im Schülerverkehr an die Politik herangetragen und diese Frage wird in den Medien regelmäßig thematisiert. Hintergrund dieser Diskussionen sind Vergleiche mit der Situation bei anderen Verkehrsträgern und die Frage, ob es nicht sicherer und sinnvoller wäre, auch im Linienbus eine Anschnallpflicht vorzusehen. Der bdo nimmt zu dieser Problematik Stellung wie folgt:

Anschnallpflicht im ÖPNV
ÖPNV-Busse sind Massenverkehrsmittel, ihr Einsatz ist geprägt von kurzen Standzeiten an den Haltestellen und häufig geringen Haltestellenabständen. Im innerstädtischen Bereich betragen die Abstände zwischen den Halten in vielen Fällen nur wenige hundert Meter. Für die Gewährleistung eines effizienten Personennahverkehrs ist ein zügiges und reibungsloses Aus- und Zusteigen der Fahrgäste von elementarer Bedeutung. Eine Pflicht zur Benutzung von Gurten würde diese Zielsetzung nahezu unmöglich machen. Durch das Anlegen und Öffnen von Sicherheitsgurten würde sich das Aus- und Einsteigen der Fahrgäste deutlich verlangsamen, die Standzeiten an Haltestellen würden dadurch verlängert, der ÖPNV würde empfindlich behindert.

Zu beachten sind auch die überwiegend geringen Geschwindigkeiten, mit denen Busse im ÖPNV bewegt werden. Verletzungen von Fahrgästen in ÖPNV-Bussen treten äußerst selten auf. Die Gefahr von Verletzungen durch Stürze ist erfahrungsgemäß am größten beim Losfahren des Busses und beim Einfahren (Bremsen) in Haltestellen. Eine Anschnallpflicht zur Senkung dieses Risikos müsste also sinnvoller Weise so durchgesetzt werden, dass der Bus erst losfahren darf, wenn alle Fahrgäste angeschnallt sind und erst nach dem absoluten Stillstand des Fahrzeugs in der (nächsten) Haltebucht dürfte es den Fahrgästen erlaubt sein, sich abzuschnallen und ihre Sitzplätze zu verlassen. Dies würde – vor allem in Großstädten – zu einem Kollabieren des ÖPNV führen, weil sich die Halte- und damit schließlich auch die Fahrzeiten – sehr stark verlängern würden. Hinzu kommt, dass eine Anschnallpflicht zum vollständigen Wegfall von Stehplätzen und damit zu einer dramatischen Verschlechterung der Beförderungskapazität von ÖPNV-Bussen führen würde. Neben der kostenintensiven Umrüstung bestehender Fahrzeugkapazitäten, die sich vornehmlich durch Fahrzeuge in Niederflurbauweise mit einer vergleichsweise geringen Anzahl an Sitzplätzen sowie großen Stellflächen für Rollstühle, Kinderwagen etc. kennzeichnen, wäre die Neubeschaffung und Vorhaltung zusätzlicher Gefäßgrößen in ausreichender Anzahl und Größe mit entsprechenden fahrzeugtechnischen Ausstattungsmerkmalen (maximale Sitzplatzbestuhlung, Gurt-vorrichtungen, Informationsvorrichtungen) erforderlich. Im gleichen Zuge käme es zu einem erhöhten Personalbedarf, welcher in Zeiten großen Fahrermangels nur schwer von den Verkehrsunternehmen zu bewerkstelligen wäre. Eine genaue Bewertung, in welchem Umfang letztendlich deutschlandweit in privaten Busunternehmen zusätzlicher Personal- und Fahrzeugbedarf entstehen würde, lässt sich nur schwer bemessen. Erste Einschätzungen einzelner Verkehrsunternehmen zeigen jedoch, dass eine reine Verdopplung der vorhandenen Fahrzeugkapazitäten, unter Wahrung der allgemeinen Beförderungspflicht, nicht ausreichen würde.

Ein Beispiel: Ein Bus des Typs Mercedes-Benz Citaro (12m, EURO VI) verfügt laut Herstellerangaben bei zwei Türen über 31 Sitzplätze und 74 Stehplätze, bei drei Türen über 28 Sitzplätze und 77 Stehplätze und kann somit 105 Fahrgäste befördern. Bei Wegfall der Stehplätze würde sich die Anzahl der Sitzplätze nicht nennenswert erhöhen, da die Gänge und Stellplätze für Rollstühle, Kinderwagen etc. trotzdem frei bleiben müssten. Die Beförderungskapazität der Busse würde sich somit um ca. 77 % verringern, der Bus könnte über 70 Fahrgäste weniger befördern. Zur Beförderung der gleichen Fahrgastzahlen müssten entsprechend mehr Fahrzeuge eingesetzt werden, was die Stauanfälligkeit – gerade im innerstädtischen Bereich – und den Schadstoffausstoß deutlich erhöhen würde und in manchen Großstädten zu Hauptverkehrszeiten aufgrund der bereits bestehenden Auslastung der Infrastruktur schlichtweg zum Erliegen des Verkehrs führen könnte.

Die aus einer Sitzplatzgarantie resultierenden zusätzlichen finanziellen Belastungen (Stichwort Nachrüstung) wären für die Verkehrsunternehmen in Zeiten restriktiver Fördergelder bzw. sinkender Ausgleichsleistungen im Ausbildungsverkehr, bedingt durch sinkende Schülerzahlen, verbunden mit einem extrem hohen dispositiven Aufwand, nicht zu vertreten.

Auswirkungen auf den Schülerverkehr
Die Forderung einer generellen Anschnallpflicht und die sich hierdurch unumgänglich ergebende Sitzplatzgarantie im Schülerverkehr mögen aus Elternsicht verständlich sein, allerdings würde dies unter verkehrsökonomischen- und betrieblichen Gesichtspunkten zu massiven Problemen führen. Sicherheitsaspekte erfordern – wie oben beschrieben - kein Verbot der Beförderung auf Stehplätzen. Der Bus ist die sicherste Beförderungsart im Schülerverkehr, dies ist statistisch bewiesen. Wenn es zu Unfällen kommt, dann passiert dies kaum im Bus selbst, sondern vielmehr an den Haltestellen. Diesen Vorkommnissen kann mit einer Sitzplatzgarantie nicht abgeholfen werden.

Die Fahrzeugflotten im Schülerverkehr müssten mehr als verdoppelt werden, um jedem Schüler einen Sitzplatz garantieren zu können - bei Einsatzzeiten von ca. zwei bis drei Stunden pro Tag. Das teure „Material“ stünde in der restlichen Zeit inkl. Ferien auf dem Betriebshof ohne adäquaten Verwendungszweck.

Es bleibt nach heutiger Rechtslage jedem Schulträger unbenommen, im freigestellten Schülerverkehr bei der Ausschreibung der Verkehre die Beförderung auf Stehplätzen vertraglich zu untersagen, wenn er bereit ist, die Mehrkosten zu tragen. Diese die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten berücksichtigende Option ist sachgerechter, als eine generelle Bundesregelung und wird daher vom bdo befürwortet.

Fazit:

Der ÖPNV mit Bussen würde durch eine generelle Anschnallpflicht ineffizienter, teurer und letztlich unattraktiver. Dies könnte einen Anstieg des Individualverkehrs bewirken mit den bekannten fatalen Auswirkungen auf die Umwelt und die hohe Qualität des deutschen ÖPNV. Eine Sitzplatzgarantie im Schülerverkehr wäre nur mit sehr hohem finanziellen Aufwand darstellbar; dies hätte einen drastischen Anstieg der Beförderungstarife für Schüler und Auszubildende zur Folge, was sicher viele Eltern veranlassen würde, ihre Kinder mit dem Auto zur Schule zu bringen.