SN29 bdo-Stellungnahme Barrierefreiheit

Zum Erfordernis der Barrierefreiheit in Reisebussen, die im Fernlinienverkehr eingesetzt werden (§ 42b i.V.m. § 62 Abs. 3 PBefG)

Berlin, 01.09.2014

Der Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer e.V. (bdo) ist der Spitzenverband der privaten Omnibusbranche in der Bundesrepublik Deutschland. Er vertritt auf Bundesebene und im internationalen Bereich die gewerbepolitischen und fachlichen Interessen von rund 3.000 Busunternehmern, die sich im Öffentlichen Personennahverkehr, in der Bustouristik und im Busfernlinienverkehr engagieren und unter dem Dach des bdo zusammengeschlossen haben.

Ausgangssituation

Mit Inkrafttreten des novellierten Personenbeförderungsgesetzes zum 1.1.2013 ist die barrierefreie Ausgestaltung von im Fernlinienverkehr eingesetzten Reisebussen in zwei zeitlichen Stufen verbindlich festgelegt worden. Reisebusse im Fernlinienverkehr, die neu zugelassen werden, müssen ab dem 01.01.2016 den Vorgaben des Anhangs VII der Richtlinie 2001/85 entsprechen und mit mindestens zwei Rollstuhlplätzen ausgerüstet sein. Ab dem 01.01.2020 müssen alle Reisebusse im Fernlinienverkehr diese Ausstattung aufweisen.

Die in diesem Marktsegment tätigen Beförderer werden durch diese Vorgaben vor eine ganze Reihe von Problemen gestellt, die im Folgenden dargestellt werden:

1. Erhöhte Investitionskosten:

Die Mehrkosten für einen Hublift belaufen sich derzeit auf ca. 30.000 €. Hinzu kommen die Kosten für die ca. 8-12 Sitzplätze, die durch die beiden Rollstuhlplätze entfallen sowie die Wartungskosten für den Lift. Noch immer sind barrierefreie Reisebusse am Markt nicht serienmäßig erhältlich. Bei den bereits im Verkehr befindlichen barrierefreien Fahrzeugen handelt es sich ausnahmslos um deutliche Mehrkosten verursachende Sonder- bzw. Spezialanfertigungen.

2. Rollstuhlbeschaffenheit

Die unterschiedliche Rollstuhlbeschaffenheit stellt ein weiteres großes Problem auf dem Weg zur Barrierefreiheit dar. Es gibt kaum Standardrollstühle; die meisten Rollstühle sind individualisiert und an das jeweilige Krankenbild angepasst. Die entsprechenden technischen Spezifikationen sind im Medizinproduktegesetz geregelt. Die mit der Produktvielfalt einhergehenden Schwierigkeiten sind zum einen der Umstand, dass es lt. Rollstuhlherstellern mindestens fünf bis acht verschiedene Sicherungssysteme an den verschiedenen Rollstühlen gibt (z. B. Ösen, durch die die Befestigungsgurte gezogen werden). Zum anderen entsprechen viele Rollstühle weder der DIN EN 12183/12184, noch sind sie mit einem sog. Kraftknoten ausgestattet (dies ist gemäß DIN 75078-2 ein „Punkt, in dem idealerweise die Rückhaltekräfte des Personenrückhaltesystems in das Rollstuhlrückhaltesystem eingeleitet werden“) und sind somit nicht zur Beförderung als Fahrzeugsitz geeignet. Wenn es zu einem Aufprall kommt, können die entstehenden Kräfte nicht abgeleitet werden und es kann passieren, dass der nicht mit einem Kraftknoten ausgestattete Rollstuhl in Einzelteile zerfällt, wie es Crashtests der Bundesanstalt für Straßenwesen bewiesen haben.

Einige Rollstuhlhersteller streben gegenwärtig die Einführung einer Kennzeichnung an („Ampel“), aus der für den Busfahrer erkennbar wird, ob sich der Rollstuhl überhaupt als Fahrzeugsitz sicher befördern lässt.

Was die Nachrüstung von Rollstühlen mit Kraftknotenpunkten bzw. die Ausstattung behinderter Menschen mit Rollstühlen, die der DIN EN 12183/12184 entsprechen, anbelangt, weigern sich viele Krankenkassen bzw. Sozialhilfeträger, diese Kosten zu übernehmen. Hier ist nach unserer Auffassung das Bundesministerium für Gesundheit in der Pflicht, eine geeignete Lösung herbeizuführen.

Seitens der Behindertenvertreter wird verständlicherweise argumentiert, dass die entstehenden Mehrkosten keinesfalls zulasten der mobilitätseingeschränkten Personen gehen dürfen. Es muss aber ebenso konsequent vermieden werden, dass das Sicherheitsrisiko, das besteht, wenn als Fahrzeugsitz ungeeignete Rollstühle befördert werden, von den Beförderungsunternehmern oder den Fahrern getragen wird. Hier sind klare Aussagen des Gesetzgebers erforderlich.

3. Erforderliche Rechtsänderungen

Viele Menschen mit Behinderungen benötigen besondere Hilfsmittel. Insbesondere die ggf. erforderliche Mitnahme von Sauerstoffflaschen und die Beförderung von Elektrorollstühlen werfen rechtliche Fragen auf. Die BOKraft verbietet die Mitnahme gefährlicher Stoffe, vgl. § 15 Abs. 1, weshalb nach geltender Rechtslage die Beförderung von Fahrgästen mit Sauerstoffausrüstung nicht ohne weiteres möglich ist. Ebenso wirft die Mitnahme von Elektrorollstühlen im Fahrgastraum Fragen der Ladungssicherung auf, da noch erhebliche Zweifel bestehen, dass die Batterie mit dem Rollstuhl so fest verbunden ist, dass sie sich auch im Falle einer plötzlichen Bremsung (einwirkende Kräfte entsprechen der zehnfachen Erdbeschleunigung) nicht vom Rollstuhl löst.

4. Höchstzulässiges Gesamtgewicht

Vor dem Hintergrund, dass die Busse durch die zahlreichen heute zu beachtenden Umwelt- und Sicherheitsstandards über die letzten Jahre immer schwerer geworden sind (Euro VI-Fahrzeuge wiegen ca. 600 kg mehr als Euro V-Fahrzeuge) und angesichts des Umstands, dass die Vorgaben zur Barrierefreiheit der Fahrzeuge einen weiteren Anstieg des Fahrzeuggewichts zur Folge haben (Lift, Rollstühle), ist eine Anpassung der zulässigen Gesamtmassen unabdingbar. Die Richtlinie 96/53, die u.a. das zulässige Gesamtgewicht für zweiachsige Busse im grenzüberschreitenden Verkehr regelt, wird derzeit in Brüssel überarbeitet. Sowohl das EU-Parlament als auch der Rat unterstützen die bdo-Forderung, das zulässige Gesamtgewicht von derzeit 18 auf EU-weit 19,5 Tonnen anzuheben. Es bleibt nun abzuwarten, wie sich die EU-Kommission positionieren wird.

5. Bauliche Infrastruktur

Barrierefreie Fahrzeuge sind nur ein Baustein der barrierefreien Mobilität. Ganz entscheidend ist immer auch die bauliche Infrastruktur der Haltestellen und Busbahnhöfe. Nur wenn neben dem barrierefreien Ein- und Ausstieg sowie der sicheren Beförderung auch der Weg zum Fahrzeug für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste barrierefrei zu bewältigen ist, ist barrierefreie Mobilität gegeben. Die EU-Verordnung Nr. 181/2011 über Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr (VO 181/2011) gibt in Erwägungsgrund 11 den Mitgliedstaaten auf, sich um die Verbesserung der bestehenden Infrastruktur zu bemühen, “wo dies notwendig ist, um Beförderer in die Lage zu versetzen, den Zugang für behinderte Menschen oder Personen mit eingeschränkter Mobilität zu gewährleisten und geeignete Hilfestellungen anzubieten”. Damit sieht der EU-Gesetzgeber Bund und Länder in der Pflicht, Maßnahmen zur Herstellung barrierefreier Haltestelleninfrastruktur zu ergreifen. Die Busunternehmen dürfen mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen werden. Im Hinblick auf 2022 („vollständige Barrierefreiheit“ im ÖPNV, vgl. § 8 Abs. 3 PBefG) sind in vielen Städten und Gemeinden Maßnahmen erforderlich, Zugänge zu Haltestellen und zentralen (ÖPNV-)Omnibusbahnhöfen und deren bauliche Beschaffenheit barrierefrei zu gestalten, um diese für Menschen unterschiedlichster Behinderung oder Mobilitätseinschränkung nutzbar zu machen. Gleiches muss auch für die Fernbushalte gelten. Die Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsarten, also insbesondere des Fernlinienverkehrs mit dem ÖPNV, ist für die Mehrheit der Fahrgäste wünschenswert, für mobilitätseingeschränkte Reisende ist sie oftmals zwingend erforderlich.

6. Übergangsfristen

Die im Gesetz verankerten Übergangsfristen (2016 bzw. 2020) sind sehr ehrgeizig und angesichts der Tatsache, dass es sich beim Fernbusverkehr um ein völlig neues Marktsegment handelt, mit den Gegebenheiten der Praxis nur schwer in Einklang zu bringen. Berücksichtigt man die marktüblichen steuerlichen Abschreibungsfristen von acht Jahren, müssten bereits jetzt ausschließlich Fahrzeuge angeschafft werden, die den Vorgaben des novellierten PBefG entsprechen. Diese Fahrzeuge sind aber – wie oben ausgeführt – noch nicht serienmäßig am Markt erhältlich (barrierefrei und Euro VI). Unternehmer, die jetzt für den Fernlinienverkehr neue Busse kaufen, werden vor diesem Hintergrund die Fahrzeuge nur über einen kürzeren als den bisher üblichen Zeitraum wirtschaftlich nutzen können und beim Weiterverkauf finanzielle Einbußen hinnehmen müssen.

Fazit

Die Barrierefreiheit in Bussen ist gegenwärtig noch kein Zustand, sondern ein zwar begonnener aber langwieriger Prozess. Es bedarf noch vieler Anstrengungen aller Beteiligter, um hier zufrieden stellende Ergebnisse zu erzielen. Die Verankerung der Barrierefreiheit im novellierten PBefG ist nur ein erster Schritt in diese Richtung. Es bedarf des Zusammenwirkens des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Bushersteller, der Beförderer, des Deutschen Städtetages und der Vertreter mobilitätseingeschränkter Fahrgäste, um hier sinnvolle Lösungen für alle Beteiligte zu erreichen.